Eine neue Zeit ist da und das ging schnell. Eine knappe Woche hat es gedauert, diese Zeit zu kreieren, da brauchen die Künstler meistens länger. Es ist das Zeitalter der Wissenschaft. Endlich, sagen wir, wurde auch Zeit, das neue Zeitalter. Nicht Zeit wurde es für schlechte Laune im Supermarkt. Das haben wir noch nie erlebt, wie sich einander unbekannte Menschen beleidigen oder sogar prügeln wegen Klopapier. Und es wurde auch nicht Zeit für eine Verschanzung von Menschen hinter Türen und Grenzen. Dafür ist nie die richtige Zeit.
Die Wissenschaft sagt: Synchronizität nennt man einen Zustand, in dem die Dinge gleichzeitig passieren. Zum Beispiel arbeiten manche Menschen noch viel mehr als sonst und können noch immer nicht anständig davon leben. Während aber gleichzeitig unsere Nachbarn so laut lachen wie noch nie, einfach, weil sie sehr gute Laune haben und in der Sonne sitzen.
Beispiele sind gut. Die Wissenschaft sagt uns, was erlaubt ist. Alles, was erlaubt ist, tun wir: Wir tun es gerne. Die Wissenschaft sagt uns auch, was nicht erlaubt ist. Wir können nichts dagegen tun, nichts können wir tun, fast gar nichts. Erst schließen die öffentlichen Schulen und Kitas, dann die privaten Schulen, die Geschäfte und die Kneipen.
Fast alles ist zu, aber ok. Die Osterglocken wurden nicht verboten, sie waren dieses Jahr schneller als das Virus, der Frühling ist da und blüht. Vielleicht blüht sogar mehr: Ideen und Hilfsbereitschaft, zum Beispiel.
Wir suchen die Osterglocken und finden sie. Wir suchen ein Bild, aber wir haben noch keines gefunden. Das Ordnungsamt könnte ein Bild für diese Zeit sein, aber damit sind wir nicht zufrieden, obwohl wir nichts gegen das Ordnungsamt haben. Oder Klopapier. Aber es ist so, dass wir froh sind, wenn wir welches haben, und damit ist zu diesem Thema alles gesagt. Wir haben kein großes, passendes Bild, das uns hilft, das Virus, die neue Zeit zu greifen. Das ist ein Problem, da möchten wir keine schönen Worte benutzen, wenn wir keine haben. Wir versuchen, uns an das Greifbare zu halten.
Wir dürfen nicht mehr schwimmen, die Bäder sind gesperrt, vielleicht sogar der See im Sommer. Ausgerechnet, denken wir. Ausgerechnet unsere Lieblingskneipe, das Theater, das große Theater und die kleinen. Ausgerechnet der Sportverein, den wir für unsere Balance brauchen. Und jetzt die Bäder, vielleicht sogar der See im Sommer.
Man muss wissen, wir lieben den See. Unterzutauchen und dann ist Stille. Wieder aufzutauchen mit diesem Blick ins Freie. Wenn wir in der Sonne liegen, wenn alles matt wird und die Bewegungen langsam. Jetzt ist auch alles langsam, aber das ist nicht dasselbe. Wir laufen langsam, wir stehen langsam auf, wir haben mehr Zeit, die meisten von uns.
Die Buchhandlungen haben anfangs geschlossen, das ist ok. Wir können die Bücher bestellen. Die Restaurants sind zu, wir bestellen unser Essen, das ist ok. Viele von uns arbeiten langsam, wenn sie Arbeit haben, das ist ok, ganz bestimmt. Aber den See zu sperren ist nicht ok. Rote Bänder hängen schlaff zwischen Wegweisern und regelmäßig fährt die Polizei vorbei und kontrolliert. Jeder Mensch hat eine Schmerzensgrenze. Wie sollen wir denn schwimmen, wo wir es doch so lieben?
Wir haben noch keine Idee, wie wir trotzdem schwimmen können. Immerhin sind wir nicht allein, und zusammen habt man mehr Ideen. Jedenfalls können wir uns besser gegenseitig helfen zu denken, wenn wir nicht allein sind, soviel ist sicher. Und wir glauben daran, etwas herauszufinden, also suchen wir weiter.
Inzwischen schreiben wir Regeln auf, an die wir auch glauben. Wir machen das wegen Regel Nummer acht. Regel Nummer acht lautet: Wenn du nicht mehr weiterweißt, denk dir etwas anderes aus. Die restlichen Regeln gehen so:
1. Sei vorsichtig, sei bitte sehr vorsichtig, aber nicht ängstlich. Verwechsel das nicht.
2. Wenn du bisher nicht joggen warst, ist jetzt der richtige Moment, damit anzufangen.
3. Sei immer an der frischen Luft. Das tut gut, es sei denn, es wird dir zuviel.
4. Iss viel und gut, zum Beispiel Gemüse.
5. Halte den Abstand von 1,50 Meter ein, mindestens und in jedem Fall. Merke dir, wie schön es ist, andere Menschen zu berühren und vergiss das nicht.
6. Pass auf dich auf! Auf dich selbst und wenn du dann noch Energien übrig hast, auch auf die anderen Menschen.
7. Sei schneller als das Virus, zum Beispiel mit dem Fahrrad.
8. Wenn du nicht mehr weiterweißt, denk dir etwas anderes aus.
9. Stell dir vor, du bist ein alter Mensch geworden, viel älter als du jetzt bist. Und dann stell dir vor, wie du über diese vergangene Zeit erzählst, die jetzt passiert. Das darf ruhig schwierig sein, aber manchmal auch ok, mindestens ok. Vor allem, weil du es ja gut überstanden haben wirst und jetzt dein zweites Glas Wein trinkst oder was immer du magst.
Du erzählst ausführlich, du gehst ins Detail. Weißt du noch, sagst du. Lass nichts aus. Geh mit deinen Gedanken dahin, wo es wehtut. Nicht einmal schwimmen durften wir, sagst du, obwohl es uns das Liebste war. Denke an die Menschen, die dir in dieser Zeit geholfen haben und denen du geholfen hast. Langsam wirst du müde vom Wein, aber es ist nicht unangenehm, eher träge, sehr träge, wie nach einem langen Tag in der Frühlingssonne, deren Wärme schon um sich greift.
Ich bin so träge, sagst du, gerade könnte ich mir nicht vorstellen zu schwimmen. Aber wir sollten bald wieder hingehen, vielleicht am Wochenende. Ja, das wäre schön, denke ich.
Du nimmst noch einen großen Schluck Wein. Dann lehnst du dich schwer in deinem Sessel zurück. Ah, das fühlt sich gut an, stimmts?